Tessiner Klötzli

  • Post published:24. April 2020

Trontano, Verigo, Marone, Coimo, Gagnone-Oresco, Druogno, Bottogno, Santa Maria Maggiore – man lasse sich diese Bahnhofsnamen schon nur einmal auf der Gehirnzunge zergehen. Tönen sie nicht einfach grossartig, malerisch, ja poetisch? Die Centovallibahn ruckelt gemächlich von Domodossola herkommend die Kurven hoch. Es ist Winter und die dichten Laubwälder neben der Zugstrecke sind kahl. Irgendwie kommt es mir vor, als könne ich Wildschweine durchs Unterholz jagen hören. Die Wände der Häuser sind gelblich, eisenrot, himmelblau oder lindengrün und verströmen jene abgegriffene Patina, die auf eine längere Geschichte hinweisen. Etwas Unperfektes geht von Ihnen aus, was die Italiener aber mit Erkern, Torbögen, Säulen und mit Eisen beschlagenen Fensterläden sowie Kübelpflanzen und Palmen wettmachen. In drei Wochen sind Weihnachtsferien, weshalb ein Bürgermeister in vorauseilendem Gehorsam schon mal eine Leuchtschrift vor einen Dorfplatz hat spannen lassen mit der Botschaft: „Buone Feste.“ 

In der Bahn gibt es nicht nur einen Kondukteur, der, nachdem er die Fahrkarten von zugestiegenen Fahrgästen überprüft hat, immer wieder zum Plaudern nach vorne zum Fahrer geht, sondern auch noch ein altmodisches Kioskwägeli mit ordentlich stark aufgebrühtem Filterkaffee in Thermoskannen, sowie Panettones in sämtlichen Geschmacksrichtungen. Plötzlich verstehe ich all die Seniorinnen und Senioren, die vielleicht nicht mehr so gut zu Fuss sind und mit einem GA durch die Lande „rösseln“, denn es gibt so viel zu sehen, zu beobachten, zu riechen, zu besprechen, analytisch einzuordnen und vor allem sich vorzustellen. Das Neue hält den Geist fit. Genial. Nach der Grenze in die Schweiz kriegen die Häuser unmittelbar einen stärkeren Anstrich und die Bahnhöflein wirken wie von Zauberhand aufgeräumt. Aber das alles ist trotzdem nicht minder lieblich. 

In Tegna steige ich für ein paar Tage in der Casa Betulla ab, um zu Kräften zu kommen. Während des Aufenthalts streune ich regelmässig durch die verschiedenen Quartiere des Dorfes und stelle begeistert fest, wie stimmig ein architektonisch bunt zusammengewürfeltes Häusersammelsurium dennoch sein kann. Das gibt bei uns in der Deutschschweiz in dieser Art einfach nicht. Da steht eine napoleonische zitronengelbe Villa mit weissen Türen und Fenstern neben einem schlammfarbenen Kubus mit Flachdach sowie krampfhaft verspielten waag- und senkrechten Rechtecken als Fenstern. 

Und hier im Tessin? Hier gibt es keinen Murks, sondern nur klare, schlichte Formen, die Ruhe ausstrahlen. Elegante Betonbauten, die einer Architekturzeitschrift entstammen könnten, wie etwa die Dorfschule mit ihren runden Gebäudeecken und braunen, grosszügigen Fenstern oder ebenerdige, stark in die Länge gezogene, rechteckige Wohnbauten (die ich liebevoll „Tessiner Klötzli“ taufe) fügen sich spielerisch in das übrige Assemblée aus alten Häusern mit Schieferdächern, farbigen Villen oder der Dorfkirche mit verwittertem Ziffernblatt und aufgepepptem Jesusbild in der Einfahrt ein. 

Natürlich wird die Szenerie durch das italienische Palaver der Strassenbauer, Hausfrauen auf dem Weg zurück vom „Kömerlen“ oder Kindergartenkindern, die an den Mittagstisch strömen, angereichert und verzaubert. Es wirkt einfach stimmig. Nicht verwunderlich also, zieht es so viele Deutschschweizer nach ihrer Pension in die Sonnenstube der Schweiz, wo sie noch einmal aufblühen. So wie die durchtrainiert wirkende, zirka 75-jährige Frau, die ich bei einer Kapelle an einem Aussichtspunkt treffe und die in wunderschönstem Italienisch fragt, ob der Platz auf der Bank neben mir noch frei sei. Als ich nur kurz stumm nicke und mit einer einladenden Geste zeige, dass dem so sei, begreift sie sofort und wechselt in ein breites Baseldeutsch. Nachdem wir uns kurz ausgetauscht haben, was uns an diesen wundervollen Ort geführt hat, schweigen wir wieder und wenden unsere Gesichter der wohlig warmen Sonne zu.