Studentinnenleben – irgendwie

  • Post published:28. Oktober 2020

Gottes Schauplatz: die Welt. Genauer: ein Stadtberner Quartier, die Länggasse. Anna-Barbara Schmid, 23-jährig, Germanistik-Studentin im fünften Semester, trat in der Mittelstrasse wütend in die Pedale ihres Kristall-Retro-Rennrads. Sie hatte soeben an der Uni-Tobler ein neues Seminar besucht, bei dem es um die Strukturierung von Texten gegangen war und in welchem Frau Dr. Seibold die Frechheit gehabt hatte, ihren Text als Beispieltext zu zerpflücken. Was für eine arrogante, dumme Gans. Anna-Barbara wusste zwar, dass es ihren Texten wegen ihrem blumigen und etwas ausufernden Schreibstil noch etwas an Stringenz fehlte, aber eine schlüssige Struktur, die kriegte sie eigentlich immer formidabel hin. Immer! Wie denn sonst wäre sie vertammi zur Ehre gekommen, in „HauRuck“, einem pointiert links-politischen Magazin, Kolumnen zu verfassen? Über Foodwaste, über die Klimabewegung, den Landesstreik 1918 und dessen Bedeutung für heute oder zum Beispiel über so etwas Exotisches wie Che Guevaras Erbe in Polen. Und das notabene seit mehr als zweieinhalb Jahren! Wurde sie da für Ihren Output etwa nicht von allen Seiten her über den Klee gelobt, gelikt, ja, gar ein wenig gefeiert? Anna-Barbara kochte. In der Migros schmiss sie deshalb wütend Bananen, Kürbiskerne, Tofubratlinge, Kurkuma, Basmatireis und Salat ins Körbchen (heute war sie in ihrer WG fürs Znacht zuständig) und stellte sich dann ungeduldig in die Reihe vor dem Self-Checkout. Als wäre die Scheisse nicht schon genug am Dampfen, begann jetzt noch jemand in ihrem Rücken in Thurgauer Dialekt zu telefonieren. Anna-Barbara hasste diese schmierig-ungelenke Mundart wie die Pest. Konnten die denn nicht normal reden? Genug war genug. Sie wollte in die Anstehspur zur bedienten Kasse wechseln, drehte sich um und sah sich einem typischen Hipster mit Telefon im Anschlag gegenüber: 5-Tagebart, goldgerahmte Pilotenbrille, 80er-Jahre Fleecepulli, abgeschnittene Jeans, Velokurierdächlikappe. Mmmh, Moment, der Typ sass doch auch im Seibold-Seminar? Hatte vor einer Woche beim zweiten oder dritten Mal Seminar so lächerliche Marrakesh-Finken getragen und in den Pausen wars derjenige, der immer so laut lachte. Da der Typ sie für ihren Geschmack ein wenig zu lange mit den Augen taxierte, entfuhr ihr etwas barsch ein: „Was glotzt du denn so?“, worauf ihr Gegenüber mit einem scheuen Lächeln aber doch sehr schlagfertig antwortete:
„Ou. Schlechter Zeitpunkt?“
„Ja, voll!“
„Also…“
„Was also?“
„Wir sind doch…?“
„…ja, ja, im gleichen Seminar.“
„Ich wollte dir nur…“
„…was wolltest du?“
„Hej, ausreden lassen, okay?“
„Hast ja recht. Sorry! Ich bin nur so, phu!“
„Schon okay. Also wegen deinem Text beziehungsweise wegen deinen anderen Tex…“
„…fand die Seibold Kacke. Hast ja gehört.“
„Hatte sie denn nur unrecht?“
„Verarschst du mich oder willst du mich absichtlich provozieren?“
„Nein, nein. Ich frag mich nur, was genau dich denn so auf die Palme bringt? Sie hat in meinen Augen eigentlich relativ nüchtern und sachlich die unausgewogenen Proportionen von Einleitung, Hauptteil und Schluss kritisiert. Warum meinst du wohl hat sie aber deinen Text aus inhaltlicher Sicht genommen? Sicher nicht, weil dieser auch nur irgendwie schlecht gewesen wäre. Im Gegenteil. Die weiss im Fall hundertpro – übrigens wie die meisten deiner Kommilitoninnen – dass du nebenbei tolle Texte schreibst.“
„Oh, danke. Mmmh, ahaaaa. Ach so. Nein. Wirklich? Du könntest recht haben. Mist, ich muss leider eingestehen, dass ich mit Kritik generell recht schwertue. Fühlte mich schon als Kind bei Rückmeldungen nie richtig verstanden, pflegte regelrecht einen auf mich bezogenen Gerechtigkeitsfanatismus. Darfst mich von mir aus auch sensibel nennen. Gehen Feedbacks denn bei dir wie durch Butter?“
„Seh ich so aus? Nein. Überhaupt nicht.“
„Aha.“
„Was meinst du, wie ich jeweils die Faust im Sack mache. Aber wie es so schön heisst: life is not a piece of cake. Ich frage mich dann jeweils, was das alles mit mir zu tun hat. Und wenn ich dadurch in mir eine Grenze verschiebe, weiss ich, dass mir das letztendlich guttut. Ich komme so weiter, raus aus meiner doch recht chillig eingerichteten Komfortzone.“
„Tönt gut… Shit, a propos weiter. Ist ja schon 12.45 Uhr. Ich muss. Kafi mit Sarah. Du weisst schon, die mit dem Muttermal am Hals. Hat mich gefreut. Echt. Wollte nicht so angriffig sein und dich anmotzen, gell. Tschuldige!“
„Schon okay.“
„Wie heisst du denn?“
„David. David Ramseier.“
„Ja dann, lieber David. David Ramseier“, Anna-Barbara hielt inne, schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf, „ähm, dich findet man auch auf Facebook, oder?“
David, sie nicht aufhalten wollend, lächelte nur, streckte still seinen Daumen hoch und nickte ihr ein: „Ja, klar“ zu.
„Also, see you…. Und hej, bin grad ein wenig getumblert, danke für deine Ehrlichkeit!“
„Gern geschehen.“
„Tschühüss… Bis bald…. Einmal?“
„Ja, sicher, tschüss…Bis bald…Hoffentlich.“