Tatsächlich, es gibt sie noch: Die Landesbibliothek. Beinahe versteckt, steht sie hinter dem mit seinen Säulen in der Front trotzig wirkenden Kirchenfeldgymnasium. Dort verrichtet sie ihren Dienst. Seit 1895. Als würde die Zeit stillstehen. Und mit ihr: das Personal. Die Concierge mit den schiefen Augen, die blonde Frau an der Ausleihe mit leicht französischem Accent, der Bibliothekar mit Bart und Jesussandalen – quasi-konserviert, wie ich sie aus der Studienzeit in Erinnerung hatte. Vielleicht mit etwas mehr MakeUp, mit etwas mehr Runzeln auf der Stirn, mit etwas mehr grauem oder lichterem Haar.
Ich setze mich in den Lesesaal und gebe mich der einlullenden Fast-Stille hin: den raschelnden Buchseiten, den sanft hin- und hergeschobenen Stühlen, den klickenden Mäusen und klackernden Tastaturen, dem Quitschen von Gummisohlen auf Linoleumboden sowie den tiefen Seufzern der Arbeitenden. Die Bücherregale sind mit Literatur, Geschichte/Geographie, Religions-, Rechts- und Sozialwissenschaften beschrieben. Vorgooglerianisches Wissen. Analog. Mit Händen greifbar.
Der Blick durch die grosszügige Frontscheibe verrät, dass es Spätherbst ist: Grauer Nebel, Nieselregen, fast kahle Bäume mit einem Rest farbiger Blätter. Was für ein Kontrast zum lauten Sommer, der es gewesen ist, mit diesen fast absurd hohen Temperaturen, dem grellen Licht, den Horden von Grill- und Badeplauschwütigen, dieser scheinheiligen Heiterkeit. Ich gebe zu, ich komme mit dem Ferrari unter den Jahreszeiten immer schlechter zurecht. Obwohl, wenn ich an die Bilder aus dem Monbijoupark denke, dann liegt Versöhnung drin. Dort trifft sich nämlich auf engem Raum die ganze Welt und das ist wunderbar. Frauen aus aller Herren Länder braten über offenem Feuer Fleischspiesse, backen Fladenbrote oder kochen Tee. Horden von Kindern, weiss, schwarz, braun, gelb, wuseln auf der Rasenfläche, dem Sandeliplatz, dem Drehkarussell oder bei der Rutsche herum. Es wird gespielt, gerannt, geschrien, geschubst, gelacht. Etwas weiter hinter bei den Bänkchen lassen sich diskret die Alkis nieder. Auf der Wiese sitzen oder liegen Hipster mit nackten Füssen und diskutieren alternative Geschäftsmodelle. Eine fitte Mobiliarangestelltenrunde stellt sich im Kreis auf, macht ein paar Kräftigungs- sowie Dehnübungen und diskutiert die zu absolvierende Joggingrunde. Ich sitze mittendrin und sauge dieses Leben auf, von dem ich abgeschnitten bin. Mit diffusen Schmerzsyndromen im ganzen Körper, mit chronischer Erschöpfung, mit einer brettharten Depression. Es fühlt sich an, als würde ich TV gucken. Distanziert. Aber wenigstens bei den Leuten.
Ich bin froh, dass ich mich über kleine Dinge freuen kann. Am meisten gefällt mir, wenn Mütter mit ihren Bengeln Fussball spielen, da fand ja gottseidank eine Menge Emanzipation statt. Insbesondere hat es mir deren Technik angetan, die mich entfernt immer ein wenig an Tipkick erinnert. Das Standbein ist in der Regel zu weit weg vom Ball und muss erst einmal konzentriert gesetzt werden, das Kickbein gefällt durch eine ausufernde Schaufelbewegung, die exakt 90 Grad nach hinten und nach vorne geht. Fantastisch.
Immer wieder bin ich überrascht, wie schnell sich die Stimmung ändert. Einige Wochen später erinnern im feuchtschweren Rasen nur noch Stöckli im Boden an den Fussballplausch. Im Sandeliplatz liegt einsam ein kaputtes Plastiksieb. Die Grillstellen sind verwaist. Über allem schwebt eine schwere Stimmung von Vergänglichkeit. Die Menschen, die eilig auf dem Gehweg den Park durchqueren sind dick eingepackt, ihre Blicke verraten, dass ihre Gedanken gegen innen gerichtet sind.
Zeit zum Schreiben, denke ich. Drinnen. In der Landesbibliothek.