Von der Kunst des Auf-den-Zug-Rennens

  • Post published:9. Februar 2025

«Rämm, Tämm, Tämm, Tämm, Tämm, Tämm», die Treppe vom ersten Stock runter, «Schwing», Türe auf, Türe zu, «Flämmtschädder!», Gebälkgezitter, «Knirsch, Knirsch, Knirsch, Knirsch» vom spickenden Kies, «Flapp, Flapp, Flapp, Flapp, Flapp, …», rasch sich entfernende Rennschritte die Asphaltstrasse runter. So ungefähr tönte es, wenn das ehemalige Nachbarsmodi Marleina um exakt 07.37 Uhr und 30 Sekunden jeweils auf den Zug Richtung Gymnasium Burgdorf rannte. Sehr regelmässig. Also eigentlich täglich. Aber offensichtlich erfolgreich, denn heute studiert sie an irgendeiner Uni irgendetwas.

Schaue ich mir – als Bahnhofanreiner fühle ich mich dazu prädestiniert – die tägliche Kunst des Auf-den-Zug-Rennens etwas genauer an, stelle ich fest, dass es dafür drei primäre Darstellungsformen, im Fachjargon Tripple-S genannt, davon gibt: die Sprinter:innen, die Sekündeler:innen (zugegebenermassen sind dies Renn-Sonderförmler:innen, aber dazu später mehr) und die Schlenderer:innen. Nicht wenige mischen diese Kunstformen in ihrem Alltag je nach aktueller Situation oder persönlicher Verfassung flexibel. Die meisten unter uns aber haben eine der drei genannten Fortbewegungsarten als die zu ihnen gehörende identifiziert, da sie sie entweder unmöglich verändern können (Genetik kann unerbittlich sein) oder sie, selbst wenn es praktisch und logisch wäre, aus einem ihnen nicht näher bekannten Grund nicht verändern wollen (sagen wir es mal so: sie befolgen einfach ihren Seelenplan).

Mit den Sprinter:innen haben wir uns ja einleitend schon befasst. Was sie zuverlässig zu spät aus dem Haus treibt, ist schwer zu sagen? Von der leider vorhandenen Snooze-Endgegnerfunktion des eigenen Weckers, über die Sprunghaftigkeit von Vorhaben und Gedanken («Shit, ig sött doch no schnäu d Hamschter füettere, warum luegt itze d Muetter scho wieder so bös? – ahaa, d Müeslibox uf em Tisch vergässe, tammi, ig Huhn!, wo isch mis Scheiss-Handy?, und wo mis Kompi-Ladekabel?, het öpper mis Ladekabu geseh?), bis zum Eingeständnis sich selbst gegenüber, dass man sich einen Tag ohne Challenge nur schwer vorstellen kann (weshalb also diese nicht als erste offizielle Amtshandlung am Morgen gleich abhäkeln, hä?), ist alles möglich. In der Regel sind Sprinter:innen fitte Zeitgenoss:innen und der Haltung «chlei Risiko mues sii» (etwa 2 von 100 Versuchen misslingen, so what) nicht abgeneigt. Beim Einsteigen in den Zug erkennt man sie daran, dass sie eben gerade nicht einsteigen, sondern, ausgestattet mit einem seligen «Well-hell-yes-I-did-it-again»-Blick, einer Schwalbe gleich, mit 90 Grad Twist reinsegeln und sich die Türen unmittelbar hinter ihnen schliessen wie ein Vorhang nach einer Vorstellung. Stimmts oder hani rächt?

Kommen wir zu den Sekündeler:innen. Zu ihnen gehören etwa mein Teenagersohn und der etwas ältere Nachbarsgiu. Zwei Basketballfreaks, die ihre schlaksigen Körperteile gerne in ruhigen und kontrollierten Riesenschritten sowie mit ordentlich Vibe auf den Mikey-Mouse-Ohren vorwärtsbewegen. Ihr Gang zum Bahnhof ist, man kann es nicht anders bezeichnen, ein Husarenstück militärisch-präzisen Timings. Überqueren sie die Bahngleise (Perimeter: zwei Meter vor, bis zwei Meter nach den Gleisen), beginnt die Signalanlage rot zu blinken, die Bimmellaute setzen ein und die Bahnschranken senken sich. Es reicht den beiden Herren dann tout juste, noch die restlichen 150 Meter bis zum Perron zu gleiten und dort lässig einige Kollegenpfötchen zu schütteln, währenddem der Zug einfährt. Das alles hat, save, einen ziemlich grossen Coolnessfaktor. Darum: well done, Jungs…bemerkt ja niemand, wenn ihr ausser Sichtweite notfallmässig mal für 80 Meter einen Vollsprint einlegen müsst. Tipp für all diejenigen, die mit einem eher schwachen Nervengeflecht ausgestattet sind: definitiv nicht zur Nachahmung empfohlen!

Bleiben noch die Schlenderer:innen a.k.a. Trödler:innen. Im Vergleich zu den Sprinter:innen fehlt Ihnen der aktivierende Jagdtrieb, im Vergleich zu den Sekündeler:innen die knüppelharte Selbstdisziplin. So sind sie, wie sie sind und denken gerne blumige Dinge wie: «Chunnt de scho irgendwie guet» (o.Ä.) vor sich hin. Sie erheben sich zu Hause erst vom Sofa, wenn das biblische Motto: «Auf, auf, ihr Hirten» sie wie die Muse küsst und schlendern dann, egal wie spät sie schon dran sind, verträumt Richtung Bahnhof. Dort sehen sie zwar, «ou neeeiii», dass die Schranke schon unten ist und sie bemühen sich sogar redlich, ihren Rückstand mittels eingelegtem Stop-and-go-Modus (also 50 Meter joggen, 50 Meter schleichen) aufzuholen. Aber es ist schwer. Die Motivation, der Körper, die Bagage (zum Beispiel zwei grosse Handtaschen in zwei Ellenbeugen), die machen einfach alle drei nicht sooo gut mit. Aber, so wie sich die Erde eben doch dreht, erreichen auch die Schlenderer:innen mithilfe höherer Mächte regelmässig noch ihren erwünschten Zug. Entweder erbarmt sich ihrer ein toleranter Lokführer, der im Rückspiegel die verzweifelt nach Hilfe rudernde Hände der Schleichis bemerkt (an einer BLS-Station hat Mitgefühl eben noch Platz) oder eine liebe Seele (und es gibt immer eine letzte liebe Seele!) auf dem Bahnsteig blockiert mit einem Fuss die Türen, bis die Schlenderer:innen, die auf den letzten Metern gekonnt schon wieder Tempo rausnehmen, eingetrudelt sind.

Man kann es aber auch so machen wie mein Vater, wenn er im November jeweils auf die Philippinen verreist. Seit er sich in der Kategorie Ü80 bewegt, wählt er für den Weg an den Flughafen Zürich ganz einfach eine Zugverbindung, die ihn mehrere Stunden vor dem Abflug ans Ziel bringt. Heisst: Selbst, wenn er in Olten mit seinem Intercity stecken bleiben und abgeschleppt werden oder auf mehrere Regionalzüge in Aarau oder Baden umsteigen müsste, er wäre für den zweiten Morgenkaffee immer noch früh genug in Kloten. Er gehört damit zu der Spezies, die nicht mehr – auch nicht im Ansatz – auf den Zug rennen muss, kann, geschweige denn will.

Man nennt sie: die Weisen.