Herbst 1991. Wir – das heisst meine Eltern, Sabrina, die jüngere der zwei älteren Schwestern, und ich, verbringen zwei Wochen auf der Insel Elba. Die Hotelanlage befindet sich ca. 500 Meter vom Meer entfernt. Gezielt verschnörkelte Steinwege führen, gesäumt von Pälmchen oder Kübeln mit karminroten, violetten oder weissen Blumen zu den etwas lieblos hingesetzten 2-, 3- oder 4er-Bungalows oder zum Hauptgebäude, wo sich auch der grosse Essensraum befindet. Im hinter der Anlage ansteigenden Hang liegen leicht versetzt zwei Tennisplätze, die mit ihren rostigen Umzäunungen und dem sich wellenden Belag eindeutig schon bessere Zeiten gesehen haben. Es sind Ferien wie sie mein Vater, sonst ein ewiger Vagabund, eigentlich genau nie bucht. Aber vielleicht genau darum: perfekt. Die Zeit scheint retrospektiv zwar nicht gerade ganz angehalten zu haben, aber sie ist doch arg verlangsamt. Die Tage sind geprägt durch mildes, leicht golden glänzendes Mittelmeer-Sonnenlicht, fühlen sich süss und angenehm zähflüssig an. Irgendwie so, als hätte jemand einen riesigen Topf Honig über die Szenerie gegossen. Beinahe ritualisiert spulen wir schon bald nach der Ankunft unser Programm ab: Morgenbuffet, mit Flipflops an den Strand schlurfen, zwischen den Steinen schnorcheln, lesen oder achtlos in Bravo-Heftchen rumblättern, zu Mittag Prosciutto/Mozzarella-Panini verdrücken und eisgekühlte Cola trinken, komatös Siesta halten, um dann am Abend, ausgiebig geduscht und leicht überparfümiert, mit glühenden Wangen sich über all die köstlichen italienischen Spezialitäten zu freuen, beiläufig über deutsche Tischnachbarn zu schnöden, und wenn es hoch zu und hergeht noch einmal kurz die Zehenspitzen ins Wasser zu strecken und das gleichmässige Wuschen, Waschen und Wischen des Meeres zu geniessen.
Das Ganze wäre wohl wattigflauschig zu Ende gegangen, wenn meine Schwester nicht ihn gesehen hätte: meinen Doppelgänger. Ich müsse ihr zuhören, bestürmt sie mich beim Schiffsquai, wo ich mit Steinen gerade meine „Schifere“-Technik am Verbessern bin, ich glaube ihr jetzt ganz sicher nicht aber sie habe am hinteren Strand, wo sie gerade herkomme, mein Ebenbild gesehen. Es sei u huere krass, tupfgenaugleich schaue der aus, einfach unglaublich. Das müsse ich mir schon aus der Nähe ansehen, ich hätte wahrhaftig einen Zwilling, Scheissescheissescheisse. Die Bestimmtheit, mit welcher meine Schwester mir diese Neuigkeit mitteilt, macht mich natürlich neugierig und so nehme ich sofort den Strandweg unter die Füsse. Es ist ein äusserst schmaler, verschlungener Weg und als ich bei einer grösseren Landnase um die Kurve biegen will, da kreuzen sich unvorhergesehen tatsächlich unsere Wege. Es ist einer jener kuriosen Super-Slow-Motion-Momente: Wir drehen beide die Oberkörper ab, damit wir aneinander vorbeikommen, betrachten uns von oben bis unten, schauen uns ungläubig die Augen, bevor wir uns rasch voneinander abwenden und unseren Gang beschleunigt fortsetzten. Stimmt, der Typ ist ich. Ich bin er. Wir sehen identisch aus: kinnlange, gewellte Haare, Hakennase, im Ansatz tief liegende Augen, rote Bäckchen, hagerer Oberkörper, leichter Charlie-Chaplin-Gang, muskulöse Waden, platte Füsse, neonfarbene Badehosen. Es ist grotesk. Mir wird heiss und kalt, beides zugleich. Ich schüttle erst langsam den Kopf und beginne dann irr zu lächeln. Ich muss zuerst ein wenig durchschnaufen, bevor ich mich getraue, umzukehren. Ihn, meinen Doppelgänger, sehe ich aber nicht mehr wieder.
Am Abend ist diese Begegnung natürlich ein heisses Thema am Tisch und ich habe diese Anekdote auch später immer mal wieder im Freundeskreis erzählt. Das letzte Mal ist aber bestimmt satte 15 Jahre her und so braucht es die Lektüre von Peter Stamms Buch „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ aus der Gemeindebibliothek Grosshöchstetten, das die Doppelgängerthematik so raffiniert aufnimmt, damit ich auf meinem eigenen Lebensstrahl zurückkatapultiert werde.
Heute nun beschwingt mich der Gedanke, dass diese Begegnung vor allem eines zeigt: Es gibt trotz unglaublicher, auch äusserlicher Ähnlichkeiten, hunderte von verschiedenen Lebensentwürfen. Es hätte ja auch mich auf Elba verschlagen können. Ich wäre dann eben der Sandro. Der Sandro, der 2004 eine gewisse Guiseppina aus dem Nachbardorf kennen und lieben gelernt hatte und mit welcher er die 9-, 10 ½- und 14-jährige Rasselbande namens Alfiero, Luigi und Massimo durchzubringen versuchte. Der Sandro, der als Berufsfischer, wie bereits sein Vater, Sardellen fing, um sie einem Grossisten in der nächstgrösseren Hafenstadt weiterzuverkaufen. Der Sandro, der es über alles liebte, am Samstagmorgen mit seinen Kollegen am Dorfplatz einen doppelten Espresso zu trinken, um gleichzeitig mit verkniffenem Kennerblick den Horizont nach bekannten oder vor allem unbekannten Schiffen abzusuchen. Der Sandro, der in seiner Bucht, mit seinem Dasein einfach zufrieden war, weil das Leben nun halt einmal so war, wie es ist und wie es von ihm aus auch in Zukunft sein würde.
Halt, oder etwa doch nicht? Hiesse ich vielleicht doch nicht Sandro, sondern Silvano? Wäre Grundschullehrer? Führe mit einem alten, verbeulten Honda zur Arbeit? Liebte zeitgenössische Literatur über alles? Ich weiss es nicht. Etwas weiss ich aber heute. Ich würde garantiert nicht mehr mich an einer Landnase an meinem Doppelgänger vorbeimurksen wie ein verschupfter Teenager. Nein, ich würde ihn ansprechen. Vielleicht ginge man dann sogar zusammen auf ein Bier, würde sich dabei gegenseitig auf die Schulter klopfen, ob diesem kolossalen Zufall, würde als lustiges Andenken ganz bestimmt ein Selfie machen. Ja, genau so wäre es dann.
Wenn es nicht ganz anders wäre.