Bohneblusts Lehrblätz

  • Post published:23. April 2020

Bohnenblust schwitzte. Und er war nervös. Nervös! Man stelle sich das einmal vor. Das war ihm, dem Dr. med. Julian Bohnenblust doch noch nie passiert. Nie! Notabene in 17 ½ Jahren im Beruf als Arzt. Und auch nicht vorher. Nicht beim Staatsexamen, als Dürrenroth, dieser Nervtöter, ihn mit einer spitzfindigen Frage aus dem Konzept hatte bringen wollen, nicht bei der Hochzeit mit Marianne, nicht beim Hausbau in Muri bei Bern, wo er doch immerhin satte 2.7 Millionen verklotzt hatte, nicht bei einem seiner ziemlich zahlreichen Seitensprünge, nicht beim Segelfliegen, nicht beim heiklen Einparkieren mit dem Porsche Panamera und eben: erst recht nicht beim Praktizieren. Nie! Das Wort ‚nervös‘ existierte in Bohnenblusts Wortschatz nicht. Nein, er, er war souverän, über alles erhaben: intelligent, eloquent, potent. Kurz: IEP. Er glaubte an die Vernunft und Lösungen, die daraus abgeleitet werden konnten, an die Wissenschaft und an sich. 

Heute aber war das, was ihn nervös gemacht hatte in seiner Sprechstunde gewesen: Hugentobler, 73 Jahre alt, gebeugte Haltung, schütteres Haar, schleppender Gang aber mit listigen Äuglein, die unter buschigen schlohweissen Augenbrauen munter hervorlugten. Der Kerl müsste längst tot sein. Mausetot. Mit einer solchen Menge an Metastasen war schlichtweg kein Körper mehr überlebensfähig. Das war für ihn als Arzt so klar wie die Gausssche Normalverteilung für einen Mathematiker. Der Mann war ein Wunder. Und das schon mehr als zweieinhalb Jahre. Heute nun hatte sich Bohnenblust zu etwas hinreissen lassen, was er sonst unterliess, weil es üblicherweise immer umgekehrt lief: Nicht der Patient fragte ihn nach seiner Medizin, sondern er den Patienten. 

„Herr Hugentobler, verraten Sie mir Ihr Geheimnis? Wie machen Sie das?“
„Ich lebe.“
„Ja, das sehe ich. Aber, mit Verlaub, was steckt dahinter?“
„Hm, das Leben?“
„Ja, natürlich, aber was vom Leben? Nehmen Sie etwas Spezielles ein? Meditieren Sie? Sind Sie auf eine besondere Art gläubig?“
„Phu, man kann das wohl schon Glauben nennen.“
„Gott?“
„Nun denn, das Ganze hat in unterschiedlichen Kulturen viele Namen und praktiziert wird es auch sehr unterschiedlich. Wie sehen Sie das?“
„Ich? Ich bin ein überzeugter Atheist.“
„In so einem schwierigen Metier? Chapeau!“
Bohnenblust hüstelte. „Halb so wild. Zurück zu Ihnen: Was haben Sie gelesen oder wie praktizieren Sie Ihren Glauben?“
„Also gelesen habe ich eigentlich nichts Spezielles und was verstehen Sie unter praktizieren?“
„Na ja, beten Sie zum Beispiel?“
Ich weiss nicht, ob man das beten nennen kann?“
Bohnenblust wurde ungeduldig.
„Ist Ihnen das alles zu vage, Herr Doktor?“
„Ehrlich gesagt: ja.“
„Schauen Sie: In meinen Augen ist alles ist mit allem verbunden….“
„…Und das bedeutet?“
„Das Universum ist gross und ich bin klein.“
„Da gebe ich Ihnen recht.“
„Und so bin ich halt konstant mit unendlich viel Leben verbunden.“
„Und das alleine hält Sie am Leben?“
„Wer weiss? Schauen Sie. Ich hatte einige Male Pech und erlebte grosse Schmerzen wie mit dem Autounfall 1973, der mich fast in den Rollstuhl gebracht hätte. Dann hatte ich Glück: ich durfte meine grosse Liebe heiraten und mit ihr lange gemeinsam einen schönen Lebensweg bestreiten. Das hält sich wohl die Waage…“
„…Womit Sie eine doch ganz durchschnittliche Biographie aufweisen.“
„Richtig. Ist daran etwas falsch?“
„Nein, nein, ich meine nur, das scheint mir noch nicht die Antwort auf das Rätsel zu sein, dass Sie trotz, sagen wir mal ‚ungünstiger Prognose‘, immer noch leben.“
„Ja, stimmt, mein Lebenselixier. Excalibuuuuuur!“, flüsterte Hugentobler verschwörerisch und machte mit seinen Händen eine erstaunlich agile Schwertbewegung, „huhuuu, für mich geht’s danach weiter. Und darum spielt es nicht so eine Rolle, ob jetzt vorher oder nachher ist. Nennen Sie mich ruhig ‚Mister Perpetum Mobile‘.“
„Wie bitte?“, stammelte Bohnenblust verwirrt.
Nun stand Hugentobler ruckartig auf und sagte lachend: „So, Herr Doktor, fertig mit der Märchenstunde, das war jetzt aber spannend, oder nicht? Sie sollten Ihre Zeit aber trotzdem nicht mit mir vertrödeln, das ist nicht gut fürs Portmonee. Wir sehen uns in einem Monat. Mit noch mehr Metastasen und wohl dem Wunsch nach einer höheren Dosis Schmerzmittel. Vorausgesetzt, ich entscheide mich, zu leben. So einfach ist das. Auf Wiedersehen.“ 

Verdattert schaute Bohnenblust Hugentobler hinterher. Und war es tatsächlich so oder bildete er sich das nur ein, dass der Mann gar nicht mehr schleppend ging? 

Dann begann Bohnenblust zu schwitzen.