„Aaah“, Alois seufzte zufrieden. Genau so hatte er sich seinen Feierabend vorgestellt. Ein kühles Blondes auf dem gläsernen Beistelltischchen, die Füsse auf dem abgewetzten Restless-Stuhl hochgestellt, die TV-Fernbedienung in Griffweite. Er war zufrieden mit sich, der Welt und dem sich zu Ende neigenden Tag. Klar, Miguel hatte auf dem zweiten Trittbrettchen des „Güselautos“, wie er dem Müllabfuhrlastwagen als ehemaliges Schwamendingerkind sagte, wieder mal zu viel geplaudert. War ja auch kein Wunder, der war als Spanier vor dem Vorrundenduell gegen Portugal völlig aus dem Häuschen. „Correcto“, die Portugiesen hätten Ronaldo, „de verdad“, aber im Vergleich zu Spanien sei das vernachlässigbar, da Spanien als Kollektiv so richtig heisses Hochgeschwindigkeitstickitacka praktiziere, „pämm-pämm-pämm verschteisch, Alo, da chummsch eifach nid mit, hani rächt oder hani rächt“ und dem habe ein einzelner „Geck“ eben nichts entgegenzusetzen, nicht für nichts sage man der Mannschaft schliesslich „La Furia Roja“, und wenn man erst an dieses eine Sonder-Extra denke – Piques Partnerin Shakira im Publikum – dann sei eben kein Stier mehr aufzuhalten. Etceteraetcetera.
Alois liess ihn gewähren. Einerseits mochte er den quirligen Südländer an seiner Seite, wenn sie in Bümpliz-Bethlehem ihre Kreise zogen. Zwar hatte dieser ein bisschen den „oralen Durchfall“, wie Alois ihm hin und wieder vorhielt (was Miguel wiederum mit einer wischenden Handbewegung abtat) aber seine Sprüche, Flüche und unzähligen Weibergeschichten waren eben auch amüsant und verkürzten Alois den etwas monotonen Arbeitsalltag erheblich. Andererseits wusste er als stiller FCZ-Anhänger schon, wie sich die Spannung vor einem „Derby“ (mit GC) anfühlte. Alois machte keinen Hehl daraus, dass er vom Kern des Fussballs eigentlich keinen blassen Schimmer hatte. Als leicht übergewichtiger Junge mit Panzerglasbrille hatte er es auf dem Pausenhof nie über die Position des Auswechselspielers als rechter Aussenbieger hinausgeschafft. Taktik interessierte ihn – wie er nicht ganz ohne Stolz auf Berndeutsch sagte – „ä huerä Füechtä“. Der Ball musste für die einen ins Tor und für die anderen galt es, dies zu verhindern, „basta“. Was Alois aber mochte, waren all die Randgeschichten. Die Dramen auf dem Feld, der – wie er von Müller Hene gelernt hatte – „Träsch-Talk“ auf den Tribünen, dieser ganze „Verkleidungszirkus“ der Fans. Das amüsierte ihn. Und wenns nichts dergleichen zu hören, zu sehen oder zu kommentieren gab, dann konnte man zuhause prima auf dem Restless-Sessel wegdösen. Das nannte er dann „Superleague pennen“. Aber jetzt war WM und der Fanzirkus und das Drumherum riesig.
Alois hatte sich soeben mit einer Packung Paprika Zweifel-Chips zwischenverpflegt, als beim Stande von Zwei zu Eins am unteren Bildrand das Resultat in Bewegung geriet. Die Zwei wurde zur Eins verschoben und danach wieder zurück. Das Ganze wiederholte sich in immer schnelleren Abständen. Zuerst dachte Alois, das sei ein Fehler der Techniker in Wladiwostok oder wo auch immer im Ural oder Sibirien. Dann fluchte er leise über die angeblich schnellste Verbindung von Sunrise, kritisierte mit einem leichten Mupf den „Aldi-China-Plunder“-Fernseher, bevor er – nicht ganz ohne ernst – mit seinem Taschentuch die Brille zu putzen begann. Es half alles nichts. Der Resultatbalken glich einem kleinen Karussell. Erst mit der Zeit hörte Alois, dass sich zu dieser Sehirritation auch Ausrufe wie: „Chjujaa, chandele, chandele, charribaaa“ gesellten. Jetzt wollte er es aber wissen und setzte sich deshalb 30 Zentimeter vor die Glotze. Tatsächlich, da schoben zwei trollähnliche Wesen die Ziffern hin und her. Sie waren etwa kniehoch, hatten ziemlich ausufernde Bäuchlein, knubblige Nasen, schiefe Zähne, riesige platte Füsse, etwas irre Augen und eine Alf-mässige Körper-Gesichts- und Kopfbehaarung. „Fast ein bisschen wie Putin – einfach mit Haaren“, murmelte Alois. „Ist das die neuste originelle Coca-Cola-Werbung?“ Aber das konnte nicht sein, denn jetzt liefen die Kerlchen direkt aufs Spielfeld. Die Spieler hörten natürlich sofort mit Spielen auf und schauten ganz schön verdutzt aus der Wäsche. Kleine Lacher und Kopfschüttler konnten sie sich nicht verkneifen – was für komische „Flitzer“ waren denn das diesmal? Der Schiri probierte es ebenfalls mit Humor, zeigte ihnen lächelnd die rote Karte und mit dem Zeigfinger Richtung Ausgang. Das hätte er aber besser nicht gemacht, denn das machte die Trolle offensichtlich fuchsteufelswild. Aus ihren Gürteln, die sie trugen, zückten sie Bratkellen und begannen auf die Spieler loszugehen. Obwohl Ronaldo merkte, was ihm schwante und deshalb den Turbo einlegte, holte ihn der erste Troll mit rasend schnellen Mikroschritten ohne Mühe ein und haute ihm je eins auf die linke sowie die rechte Wade, dann auf den Po und zuletzt, sanft aber mit Drall, auf den Hinterkopf – die Frisur von Ronaldo war mit einem Schlag total im Eimer. Und wie das saftig klatschte und wie Ronaldo zu jammern und plötzlich von „ich geh weg von Real, das wird mir zu bunt, ich brauche einen italienischen Espresso“ zu faseln begann – es war das reinste Spektakel. In derselben Zeit hatte sich Troll Nr. 2 Quaresma gekrallt und ihn überall dort gebissen, wo dieser einen Mund tätowiert hatte – also fast überall. Für die beiden Wichte schien es das reinste Fest. Man hörte sie Dinge sagen wie: „Sergej, du chaltes Chaus, chunser Blaubeer-Zaubertranch ist Spitze, choder? Ich chmeine Chasterix und Chobelix sind im Vergleich zu chuns laame Schneckchen, choder?“ „Chja, Witali und für chwas man Bratchellen nicht challes chebrauchen chann – am Mittag Würste auf dem Feuer drehen, am Chabend den chochgelobten Stars chein bisschen Changst einjagen.“ „Recht so, sie chaben uns schliesslich nicht chefragt, chob sie den Platz über chunseren Wohnchöhlen für ein Stadion und chihren verdammten Fussball chebrauchen dürfen.“ Nach ein wenig Durcheinander fragte Sergej Vitali schliesslich, chob er nicht auch noch ein wenig Chunger habe? „Chut, dass du frachst. Chjaa, natürlich! Chom, lass uns von chier verduften – hier stinkts sowieso nach zu viel Cheld und zu viel Chinfantino. Ich mache mich lieber noch chinter ein Wurstbrot.“ Daraufhin blitzte und donnerte es kurz und von den beiden Wichten blieben an Ort und Stelle lediglich zwei Maulwurfhügel zurück. Der Schiedsrichter – ein Brite und very trocken professionell – gewann als erster die Fassung wieder. Ganz nach dem Motto „the show must go on“, bat er zwei Spieler zu einem Schiedsrichterball und das Fussballspiel nahm seinen Lauf.
Alois brummte der Kopf. Er kratzte sich an der Nase, überlegte kurz, dass man die Natur und deren Geister, Wichte und Trolle wohl tatsächlich nie fragte, ob wir Menschen uns den ganzen Platz überhaupt nehmen durften, trottete ins Bad, putzte sich die Zähne und legte sich ohne zu überlegen mit seiner Alltagskleidung ins Bett, wo er sofort in einen traumlosen Schlaf fiel.
Am nächsten Morgen wachte Alois gut erholt auf, fragte sich aber, warum zum Kuckuck er denn noch seine normalen Klamotten anhatte. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, was gestern Abend gewesen war.