Alle guten Dinge sind… vier

  • Post published:3. September 2022

„Leer. Leer bin ich. Nein, leer fühle ich mich“, korrigierte sich Benjamin und musste über die kurzgeraffte Selbst-Psychoanalyse, die sich in seinem Kopf selbständig gemacht hatte, schmunzeln. Schnurstraks gefolgt von einem grüblerischen: „Komisch, diesen Zustand kenne ich von mir doch gar nicht.“ Wie sollte er auch, er, der Weltenbummler und Vielbeschäftigte. Was er tat, ob in Freizeit oder Beruf, gefiel ihm. Er war vielseitig. Er war neugierig. Er war schlau. Einen tollen Freundeskreis hatte er auch. Kurz: Es lief und er war verdammt zufrieden mit seinem Leben. Eigentlich. Und jetzt das: leer. Leer im Kopf, leer im Herzen, leere Beine. „Brrrrr“, einem plötzlichen Impuls folgend, schüttelte er seine Glieder durch, bevor er sich auf sein Karbonrennrad schwang und trotzig in die Pedale trat. Dabei murmelte er halblaut vor sich hin: „So, Friener, wollen wir doch mal schauen, wer hier der Meister ist.“

„Allein. Warum zum Geier musst du fast alles in deinem Leben alleine machen? Alleine wohnen, alleine trainieren, alleine verreisen, alleine arbeiten?“, dachte Kerstin, als sie von Aarberg herkommend auf ihrem Triathlonrad Fahrt aufnahm und dazu leise den Police-Refrain: „So lonely. So lonely“ vor sich hinsang. Beides war typisch für sie. Obwohl sie Freundinnen und Freunde an mehr als einer Hand abzählen konnte und ein moderat-reges Sozialleben führte, war sie erstens in gewissen Bereichen ihres Lebens eine Eigenbrötlerin geblieben. Und zweitens verfolgte Sie als ausgewiesene Musikliebhaberin – nicht immer zu ihrem eigenen Vorteil – fast pausenlos ein Ohrwurm, der ihre jeweilige Lebenssituation widerspiegelte. Canceln konnte sie letzteres in der Regel nur während ihrer Arbeit. Sie war selbständige Wirtschaftsprüferin und liebte Zahlen über alles. Zahlen gaben ihr Fokus. Und Fokus brachte Ruhe. Jetzt aber war nicht Zeit für Ruhe, sondern für Training. „Zeit für SIA“, dachte Kerstin, stöpselte sich freihändig ihre iPods in die Ohren und legte mit „Unstoppable“ los. Der Typ vor ihr auf dem schicken Karbonrad, der sich flink Richtung Seedorf bewegte, könnte ein guter Orientierungspunkt sein, überlegte sie. Bis sie ihn würde überholen müssen. Und abhängen. Das war für sie bei ihrem gegenwärtigen Formstand, über den sie sich freute aber auf den sie sich nicht im Geringsten etwas einbildete, so sicher wie das Amen in der Kirche.

Die Leere war das eine. Der Nacken und die linke Achillessehne, die beim Fahrradfahren jüngst etwas zu murren begonnen hatten das andere. Auch so was, was Benjamin nicht kannte. „Das Alter? Schon?“, fragte er sich. Gewiss, es war nicht wirklich schlimm, er hatte aber selbstverständlich sofort mit den Rennrad-Jungs von Schaller nach möglichen Fehlerquellen in seiner Ergonomie gesucht und an seinen Einstellungen zu schrauben begonnen: der Lenker war erhöht, die Klickpedal-Position etwas mehr auf den Vorderfuss verlagert und der Sattel ein My nach hinten verschoben worden. Bis jetzt leider ohne konkrete Verbesserung. Kurz vor der Abzweigung zum Chutzenturm legte Benjamin verschwitzt eine Trinkpause ein und liess, um auf andere Gedanken zu kommen, gerade genüsslich seinen Blick über die Dreiseenlandschaft gleiten, als neben ihm eine blonde Radfahrerin abrupt stoppte, ihn mit ihrem Zeigefinger an die Schulter tippte und ihm mit neckischem Unterton sagte: „Hör mal, Kollege Essig, es geht mich ja wirklich nichts an und ich weiss auch nicht, was deine Trainingsspezis dir ins Ohr geflüstert haben, aber ich fahre nun seit einer knappen halben Stunde hinter dir her und bin mir ziemlich sicher, dass – entgegen dem leider häufigen Trend – du nicht zu tief, sondern ein klitzekleinwenig zu hoch im Sattel sitzt. Stell den mal um Schätzomat 1.2 Zentimeter runter, dann ist dir wohler. Wetten?“ Bevor aber der verdutzte Benjamin antworten konnte, war die Dame mit einem Lachen und einem: „Nichts zu danken, gell“ schon davongedüst. Benjamin war baff. Zugegeben, der superdirekte Gesprächsstart – kein Vorstellen mit Namen, kein Vorglühen –, der hatte ihn etwas verärgert. Auch dass jemand offensichtlich Verfolgerlis an seinem Hinterrad gespielt und ihn akribisch beobachtet hatte, fand er etwas daneben. Aber dann änderte sich Benjamins Laune schlagartig ins Positive. Weil Tipps und unkonventionellen Austausch mit Menschen, die mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg hielten, liebte er über alles, ganz zu schweigen von Überraschungen im Alltag. Diese machten das Leben doch erst lebens…. Und schon startete er eine rasante Verfolgungsjagd. Aber der blonde Pferdeschwanz unter dem knallgrünen Velohelm – gerade noch in Sichtweite –, der kam trotz grosser Anstrengung nicht näher. Im Gegenteil, er entfernte sich sogar stetig. Nach einer schon fast halsbrecherischen Runde über Frieswil und Radelfingen musste Benjamin schliesslich in Kappelen, seinem Wohnort, die Segel streichen. Mit einem Hungerast war nicht zu spassen. Seine Muskeln brannten. Und erst recht sein Kopf. Er hatte Fragen. Viele Fragen. „Spannend“, dachte er. „Sehr spannend.“

„Wieso musste ich den jetzt unbedingt abschütteln“, fragte sich Kerstin, „ich verstehe das nicht?“ Weil, das war jetzt das erste Mal seit langem gewesen, dass sie einem Mann begegnet war, der zwar ein Klasse Fahrrad fuhr, dem aber – auf den ersten Blick zumindest – sowohl die Verbissenheit als auch irgendwelche Wettbewerbsambitionen abgingen, die den meisten Hobbygümmelern sonst so oft zu eigen waren und die sie so abschreckten. Sie selbst bezeichnete sich gern als verspielt-ehrgeizig aber nicht im Geringsten kompetitiv. Ihr ging es beim Auspowern – radelnd, schwimmend oder rennend – mehr um ihre eigenen Grenzen. Wieso also war sie davongerauscht? Er hatte doch ganz interessant ausgesehen. Sehr interessant sogar. Einer kurzen gemeinsamen Wegstrecke und einem lockeren Geplauder wäre doch nichts im Weg gestanden. Oder? Und dann bemerkte Kerstin plötzlich etwas Eigenartiges: Für einmal lief in ihrem Kopf kein Song ab. Da war nur Ebbe. Nur Ruhe. „Mmmmh, seltsam“, dachte sie. „Sehr seltsam.“

Ein paar Tage später:

Ging Benjamin mit seinem etwas abgetackelten VW-Bössli zur Arbeit, dann war er meistens knapp in der Zeit. Sehr knapp. Der Wecker war nicht so sein Freund. Die Coop Tankstelle mit ihrem üppigen Brot- und Zwischenverpflegungssortiment im Gegenzug schon. Also stand er einmal mehr am Morgen mit Banane, Müsli, Salat, Schoggidrink und zwei grossen Laugengipfeln in der Schlange zur Kasse, als er sie, die blonde Velofahrerin, nach dem Beenden des Zahlvorgangs zum Ausgang hasten sah. Er brachte gerade ein: „Hey, du, warte mal?“ heraus, worauf sie sich umdrehte, ihn erkannte, anstrahlte und antwortete: „Ah, du! Sorry, kann grad nicht, sehr wichtiger Kundentermin, immer zu spät, ich… bin… immer… so… hach, einen wunderschönen Tag dir, ja!!!“, gefolgt von einem: „aha, sieh an, Laugen, Klassiker, voll auch mein Ding“, worauf sie Benjamin mit ihrer eigenen raschelnden Papiertüte quasi ein „Ade“ zuwinkte und ihm mit stummen Lippen „e Guete“ wünschte. Aus dem Augenwinkel erkannte Benjamin, dass die Kassiererin mit dick Makeup und Reibeisenstimme die Augenbrauen hob, laut ausatmete und darauf wartete, dass Benjamin endlich seine Waren zum Einscannen hinlegen würde. Geduld sah anders aus. Benjamin war das aber gerade sowas von Wurscht, er wollte die Zeit jetzt nur dehnen. Sie festhalten. Reden. Reden mit ihr. So lange wie möglich. Unbedingt. Und brachte dann doch nur einen plumpen Satz heraus. Voll die sprachliche Übersprungshandlung, wie er sich im Nachhinein kopfschüttelnd zugestehen musste: „Du, ähm, ohne Sonnenbrille siehst du im Fall viel besser aus und wenn du einen Satz länger als nötig sprichst, steht dir das auch ganz gut. Hättest du vielleicht Lust…“ Benjamin sah, dass die Velofahrerin hin- und hergerissen war. Sie begann auf den Zehenspitzen zu trippeln. Scheisse, sie musste wirklich los.

Jetzt musste es schnell gehen, wusste Kerstin. Ihre Spezialdisziplin. Und so haspelte sie ein: „Unbedingt! Also wollen wir…gerne…Konkret: Alle guten Dinge sind bekanntlich…vier? Okay?  Bis dann. Ich…, ich…, ich freu mich. Sehr!“, sprang zu ihrem zitronengelben VW Polo und gab Gas. Ihr Herz hämmerte. Vor Aufregung. Vor Freude. Vor dem Autobahnkreisel Richtung Lyss hatte sie sich soweit beruhigt, dass sie wieder klar denken konnte. Allerdings dachte sie nicht an Lüthi & Portmann Fleischwaren, also an ihren Termin in Biel, sondern sie dachte an ihn. Hoffentlich war sie mit ihrem spontanen Hinweis nicht zu kryptisch gewesen. Hoffentlich konnte er – verdammt, sie kannte nicht einmal seinen Namen –  1 + 1 zusammenzählen. Hoffentlich hatte er Zeit. Hoffentlich kriegte er Tickets. Tickets für das Stars of Sounds auf dem Aarberger Stedtliplatz am kommenden Samstag, wo sie spielen würden: „Die Fantastischen Vier“. Vier! Kerstin klatschte sich mit der flachen Hand an die Stirn, seufzte laut ein „aiaiaiaiaiai“ und begann dann leise „Hoffnung“ von Jan Delay zu summen. Der Text des Liedes passte zwar überhaupt nicht zu ihrer Gefühlslage, der Titel und die ganze Stimmung des Songs hingegen schon. „Na, geht doch“, sprach sich Kerstin Mut zu, „was soll da auch schiefgehen? Wird schon alles gutkommen“, setzte den Blinker und spurte gutgelaunt auf die Autobahn ein.

Samstagabend am Stars of Sounds:

„Was für ein Gedränge“, ging es Benjamin durch den Kopf, „als hätte es Corona nie gegeben.“ Aber Corona war jetzt die kleinste Sorge, die er hatte. Wobei, war er wirklich besorgt? Nein, im Gegenteil. Er hatte nichts unter Kontrolle. Rein gar nichts. Nada. Also wozu sich Sorgen machen? Gottseidank. Er fühlte sich frei und wollte, ja, was wollte er denn? Wollte das Leben einfach auf sich regnen lassen. Wollte, dass der, die oder das da oben es schon richten würde(n). Falls es sein sollte. Falls es passte. Und doch hatte er es nicht unterlassen können, sich vorzubereiten. Für den Fall der Fälle. Falls er ihre Botschaft richtig verstanden hatte und sie tatsächlich da war. Falls er den Mut dazu finden würde, ihr das zu geben. Kurz spannte er die Faust an, damit er den Gegenstand, den er in ein Post-It eingewickelt hatte, in seiner Hand gut spüren konnte. Er lächelte in sich hinein. Dann entdeckte er das, was er sich erhofft aber nicht bewusst in der Menge gesucht hatte, entdeckte einen bestimmten vor sich hinwippenden, blonden Haarschopf. Und fühlte, dass sich etwas in seinem Körper auffüllte. Fühlte, dass er nicht mehr leer war.

Kerstins Körper summte. Sie war fröhlich. Die Gefühlswaschmaschine namens Bonny M umlullte wohlig ihren Körper. Auf seltsame Art und Weise spürte sie, dass sie inmitten dieser wogenden Menge geschützt war, spürte, dass sie für einmal… genau, für einmal nicht alleine war. Oder zumindest nicht so wie sie es kannte und auch schätzte. Ob dahinter aber die Musik steckte, die spontane Gemeinschaft der Festivalbesucher*innen oder vielleicht doch er, das wusste sie nicht. Eigentlich war das aber auch komplett irrelevant, denn Kerstin verstand bis in die letzte Zelle ihres Körpers, dass es im Hier und Jetzt eben nichts zu verstehen gab, sondern sie das Leben nur geschehen lassen konnte und fühlen musste. Fühlen wollte. Obwohl, halt, als sie das Kitchenerseckli, gefüllt mit einem Pack Laugenaufbackgipfelis und zwei Schoggidrinks, an ihrem Rücken spürte, dachte sie schon, dass sie nicht alles nur geschehen lassen wollte, sondern zumindest versuchen würde, dem Schicksal ein wenig auf die Sprünge zu helfen. Sie hatte ob diesem Gedankensalat gerade breit zu grinsen und sanft den Kopf zu schütteln begonnen, als sie von hinten sanft umarmt wurde.

„Endlich habe ich dich“, sprach Benjamin Kerstin ins Ohr. „Aber keine Sorge, ich lass dich schon wieder los, Frau Freigeist. So oft du das willst und brauchst, ja? Ich halte nicht fest. Ich klammere nicht. Brauchst du aber Nähe, bin ich für dich da. Das wollte ich dir nur sagen. Auch das kann ich. Weil, ich brauche das auch. Beides. Hier“, Benjamin drückte Kerstin ein Papierknäuel in ihre Rechte, „nimm das: mein Name, meine Adresse, mein Schlüssel. Komm vorbei, wann immer du möchtest. Ich kann warten. Aber sei gewarnt: Erstens bin ich geduldig. Und zweitens laufen wir uns ganz offensichtlich eh über den Weg. So schnell wirst du mich also nicht los. Schönen Abend, geniess die Musik. Nach den Fantas kommt Rea Garvey und der ist live eine Wucht.“ Dann liess Benjamin Kerstin los, wendete sich ab und wollte gehen. Er war emotional auf einen Schlag total erledigt und spürte, dass er die Entscheidung, was, wann und in welcher Geschwindigkeit mit ihnen beiden geschehen würde, ihr überlassen wollte. Da spürte er ihre Hände an seinen beiden Oberarmen und hörte ein klares: „Stopp, Mr Noch-Noname, warte,“ Benjamin hielt inne. „Warte mit mir, bis Rea Garvey kommt. Kennst du „Is it Love“? Ist Klasse. Und passt ganz gut.“ Benjamin drehte seinen Kopf zur Seite und sagte: „So, meinst du?“, worauf Kerstin antwortete: „Ich habs dir bei anderer Gelegenheit doch schon einmal gesagt: Wetten?“

Zur Hochzeit von K. & B., may the wind be always at their backs!