Wutentbrannt verlässt ein älterer Herr die Poststelle, verwirft theatralisch die Hände und wäffelet ein (halb an mich gerichtetes): «Das geit de miinndeschtens no ä haub Stung da dinne» vor sich hin. Da ich für meine Waschmaschine eine Hampfele 50 Rappen Stücke brauche, die mir jeweils die nahegelegene, prima serviceorientierte Post auf einen 10ner wechselt, bin ich gespannt, was für eine Szene mich erwarten wird.
Die Schalterhalle ist, bis auf eine ebenfalls ältere Frau, die unmittelbar nach mir eingetreten ist und sich mit säuerlicher Mine zum Warten auf einen Stuhl gesetzt hat, leer. Am Schalter steht aber ein asiatisch aussehender, hünenhafter Mann, der zwar in einem etwas nuscheligen, dafür ausserordentlich sanften Tonfall mit der Pöstlerin spricht. Diese wiederum redet mit dem Mann so, wie man es hierzulande mit ausländischen Staatsangehörigen gerne zu tun pflegt: in überdeutlich akzentuierter Schriftsprache, viel zu laut und mit Sätzen, die von Lücken geprägt sind – als ob dies das Unverstandene für das Gegenüber verständlicher machen würde? Währenddem die Schalterbeamtin, sichtlich entnervt von den Herausforderungen, die diese Kommunikation von ihr abverlangt, bereits mit der finalen Kommunikationskeule aufwartet, nämlich einem dahingeschnodderten: «Sonst müssen Sie halt mit einem Übersetzer wiederkommen» (die Konversation auf Französisch oder Englisch zu betreiben, bot sie ihm nicht an), bleibt der Mann mit seinem Anliegen standhaft, ohne aber seine auserlesene Höflichkeit zu verlieren.
Mittlerweile habe ich erfasst, dass der Mann etwas nicht gerade Alltägliches von der Frau verlangt. Er möchte nämlich seinen Familienangehörigen ein Päckli mit vier Schweizer T-Shirts und mit hochwertigen Vitaminpräparaten nach China schicken. Da bei uns im Dorf im alten Spital seit Jahren ein TCM-Zentrum ansässig ist, vermute ich, dass der Mann dort entweder als Therapeut, als Übersetzer oder als Begleiter der blinden Masseure arbeitet. Klar, er muss sich hin und wieder eine Frage der Schalterbeamtin zwei Mal anhören, bevor er sie ganz versteht und zu beantworten versucht. Seine Aussagen sind aber meist korrekt ausformuliert, seinen Namen buchstabiert er ebenfalls tadellos und bei der Angabe der Postleitzahl in China sowie bei den Ziffern seiner Handynummer, die er zwecks Rückverfolgung des Pakets angeben muss, bedient er sich sogar des Berndeutschen. Dass er sich eine Scheissmühe gibt, an diesem Ort ein begreifliches Deutsch zu sprechen, bemerkt nun auch die Frau hinter dem Schalter. Sie wirkt gelöster, bleibt jetzt geduldiger mit dem chinesischen Mann und scheint sich sogar darüber zu freuen, dass sie, obwohl sie den Erfolg der Transaktion nicht 100-prozentig garantieren kann, einmal in ihrer Karriere so ein Geschäft abwickeln darf (was tatsächlich nicht ganz ohne sein dürfte, lebten doch bei der letzten Erhebung 2023 in China 1,411 Milliarden Menschen).
Es ist ja nur logisch, dass in unserer immer diverser werdenden Gesellschaft verschiedene Sprachen, Kulturen und Wertvorstellungen aufeinanderprallen. Dass da nicht immer alles reibungslos vonstattengeht, ist deshalb nicht weiter verwunderlich (es kann sein, dass ich da als halber Holländer, der weder aus 100% Emmentaler noch aus 100% Gouda besteht, etwas sensibler getunt bin). Umso mehr freue ich mich, nachdem das Päckligeschäft erfolgreich über die Bühne gegangen ist, beim Hinausgehen, dass es gerade zwei Menschen geschafft hatten, ihre Barrieren abzubauen und die dafür nötige Geduld aufzubringen, als die ältere, wartende Frau – Marke bösartiger Giftpilz – von ihrem Stuhl aufsteht, zum Schalter stürmt und sich folgendermassen bei der Postbeamtin echauffiert: «So, Anneliese, bisch o froh, isch das huere Gschtürm vo däm Schlitzoug ändlech verbii?»
Alltagsrassismus entgegenzutreten, ist gar nicht so einfach. Mir fehlt dazu offensichtlich die Schlagfertigkeit. Aber es spricht nichts dagegen, dass ich es an dieser Stelle in einem nüchtern und bewusst pädagogisch gewählten Unterton nachzuholen versuche:
1.) Wir sollten nicht vergessen, dass vor gar nicht mal so langer Zeit, die Schweiz selbst ein Emigrationsland gewesen ist. Von 1848 bis 1914 verliessen nicht weniger als 400’000 Schweizer:innen unser Land, weil sie hier aus wirtschaftlichen, politischen oder religiösen Gründen keine Zukunft mehr sahen.
2.) Bitte lasst uns alle wieder viel mehr Szenen aus dem Alltag mindestens von zwei Seiten her betrachten. Hiesse also im Minimum aus dem eigenen Blickwinkel und dann noch aus der Perspektive der entgegengesetzten Person. In der eben geschilderten Geschichte bestünde der Optimalfall darin, dass sich die selbst ernannte «Integrationsexpertin» – wenigstens gedanklich – mal mit einem Päckli, welches sie Richtung Schweiz schicken will, um den ihr heiligen Kontakt zur Familie nicht abbrechen zu lassen und zuhause eine Freude bereiten zu wollen, auf ein chinesisches Postamt verirren sollte. Bei dieser nicht übermässig schwierigen Imaginationsaufgabe müsste sie unweigerlich die unangenehme Frage beantworten, ob sie wohl dazu fähig wäre, die zu einer knappen Konversation in Chinesisch notwendigen öppe 500 bis 750 Zeichen Mandarin in Schrift und Bild zu beherrschen.
Kann sie das?
Ich wage es zu bezweifeln.