Alles Liebe

  • Post published:10. Dezember 2020

Mit einem grossen, etwas krakeligen: „Alles Liebe, Hans Schnell“, war die A5-Postkarte mit dem Rheinfall vorne drauf unterschrieben. So viel konnte Margrit Salvisberg trotz ihrer mittlerweile schlechten Augen auf den ersten Blick entziffern. Für den Resten würde sie wohl oder übel zur Leselupe greifen müssen. „Henusode“, sagte sie sich selbst und erhob sich dann mithilfe ihres Gehstockes aus dem bequemen Lehnsessel, den ihr ihr Sohn vor zwei Jahren zum 85. Geburtstag geschenkt hatte. Während Sie zum Nachttischlein und somit zur Lupe pilgerte – über das Wort „pilgern“ musste sie selbst lachen – machte sich Margrit zu diesem Hans Schnell Gedanken. Hans wie? Ah ja, Schnell. Nun, der würde sich gedulden müssen und lachte ein zweites Mal innerlich, denn bei ihr ging es eher langsam zu und her. Dachte es und war dann urplötzlich in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort: Im Jahr 1946. In der Nachkriegszeit des kleinen Städtchens Laupen. Beziehungsweise an einem versteckten Brätliplatz am Fluss namens Sense, der dort in der Gegend seine Bahnen zieht. Mit Hans. Beide 13 Jahre alt. Niele rauchend. Gehustet hatten sie wie verrückt und ordentlich übel geworden war ihnen auch. Das aber hätte weder er noch sie in dem Moment zugegeben. Sicher nicht. Ein bisschen erwachsen waren sie sich vorgekommen. Etwas verwegen auch, weil sie etwas taten, was ihre streng religiösen Elternhäuser bestimmt nicht goutiert hätten – weder das Rauchen, noch dass sich die beiden trafen. Hans Schnell also. Nicht Hansli oder Hänsu – Hans hatte nie einen Spitznamen gehabt – erinnerte sich Margrit nun genau. Ein sehr ernster Zeitgenosse war dieser gewesen, seine Stirn häufig gekraust, so als müsste er etwas in seinem Kern durchdringen. Kein Streber zwar aber doch ein überaus gescheiter Bursche, keine Frage. Die Schule hatte ihn schrecklich gelangweilt, was hin und wieder an seiner sonstigen Überkorrektheit gerüttelt und ihm sogar das eine oder andere Mal Hiebe mit dem Lineal auf die Finger beschert hatte. Hans! Margrit wurde warm ums Herz. Wie hatte sie denn den nur vergessen können? Weil Hans, das war nicht einfach nur ein Klassengspäänli, sondern etwas ganz Spezielles gewesen. Schon nur deshalb, weil sie ihm immer wieder am Hasliberg über den Weg gelaufen war, wo sowohl er, wie auch sie das grosse Glück gehabt hatten, trotz geringer Mittel bei Verwandten Auszeiten im Berner Oberland zu geniessen. Trotz nur geringem Austausch hatten sie schon bald gemerkt, dass sie sich gerne miteinander unterhielten. Während er davon sprach, Physik zu studieren und später einen Beitrag für die Welt leisten zu wollen, gestand sie ihm, dass sie baldmöglichst für ein Jahr ins Welschland „abhauen“ wolle, um der Enge von Laupen mal etwas langfristiger zu entkommen. Natürlich hatten sie sich gegenseitig ein wenig schöne Augen gemacht. Bis auf vereinzelte, unabsichtliche Handkontakte beim gemeinsamen Bummeln, war es aber nie zu etwas Ernsthaftem gekommen. An die tiefe Vertrautheit, die sie jedoch gespürt hatte, daran erinnerte sich Margrit noch deutlich. Wäre die nicht gewesen, nein, man hätte sich sicher nicht so oft heimlich getroffen. Um einfach, ja, was denn einfach? Beieinander zu sein. Punkt. 1948 hatte dann die Freundschaft abrupt geendet, weil Hans‘ Vater irgendwo in der Ostschweiz eine Posthalterstelle gekriegt hatte und die Schnells weggezogen waren. So ging das damals halt. Was für ein verrücktes, mysteriöses Leben, das doch war, freute sich Margrit und begann nun die Karte von vorne zu lesen. Auf dieser schrieb Hans, dass er sie, Margrit, in der Migroszeitung auf einem „Erinnerst du dich?“-Foto wiedererkannt hatte, welches der Karli Eggimann eingeschickt habe, um allenfalls Kontakte zu noch (unwahrscheinlich) Verbliebenen Lauper SekschülerInnen aus dem Jahr 1947 herzustellen. Nun, meinte Hans Schnell weiter, er wolle ehrlich sein, der Karli, dieser Heuchler, sei ihm eigentlich ziemlich schnuppe. Aber ob die Margrit Salvisberg denn noch lebe, das habe ihm keine Ruhe gegeben. Seine Enkeltochter habe ihm dann bei den erfolgreichen Adressrecherchen geholfen – mit dem Internet, sie wisse schon. Auch sei ihm – er wolle direkt und ehrlich sein – in seinem schon fast babylonischen Alter (er zeichnete dazu tatsächlich ein lächelndes Gesicht) ihre und seine Biographie der letzten 70 Jahre herzlich egal. Was ihn aber wirklich interessiere, sei, wie es ihr denn gerade jetzt gehe? Wenn Sie möge, könne oder dürfe Margrit sich gerne telefonisch bei ihm melden. Er würde sich sehr darüber freuen. Die notierte Telefonnummer sei sein Festnetzanschluss in seiner „Residenz“ (wieder ein Smiley!) im Altersheim Bachtelengraben in St. Gallen. „Alles Liebe, Hans Schnell.“

Margrit liess die Hand mit der Postkarte langsam sinken und schloss kurz die Augen. Dann ging sie ins Bad, zeichnete ihre Lippen mit einem dezenten Lippenstift nach, ging ins Schlafzimmer, setzte sich auf die Bettkannte, begann zu lächeln und hob den Telefonhörer ab.