Mamma mia!

  • Post published:28. Oktober 2020

„Nun komm schon Anna, tu mir den Gefallen, nur noch diesen einen Bissen?“
„Gruusig, Mama, la mi!“
„Aber du magst doch den Schoggiflan sonst auch, oder?“
Marianna Gygax war verzweifelt. Seit drei Wochen ass ihre 6-jährige Tochter, Lea, nun schon fast nichts mehr. Das heisst: grüne Oliven und Avocadobrötchen – die Dauerbrennerkost schlechthin – die ging noch durch, aber sonst? Hacktätschli, eigentlich ein Hit, liess sie links liegen. Ebenso Risibisi oder Omeletten mit Himbeeren und Kokosblütenzucker. Sichtbare Anzeichen einer Kinderkrankheit gab es nicht. Sie hustete nicht, hatte kein Fieber, keinen Ausschlag, nichts. Schlafen tat sie ordentlich. Zahnen war grad kein Thema und der latente Dauerkrach mit ihrem 10-jährigen Bruder Lars war auch nicht nennenswert ausgeufert. Einfach wenig gegessen und sichtbar abgenommen hatte sie. Im Kindergarten laufe alles rund, hatte ihr die Kindergärtnerin, Frau Kienberger, am Telefon versichert. Vielleicht sei Lea etwas stiller als sonst, das könne sein. Aber das seien doch alles nur Phasen, das gebe sich schon wieder, hatte Sie Marianne zu beruhigen versucht.
„Und heute mag ich ihn eben nicht. Grad jetzt, wäh! Verstehst. Du. Nicht?“, sagte Lea trotzig, stiess wuchtig das Flankübelchen um, ging wutentbrannt Richtung Zimmer und schletzte die Türe so fest hinter sich zu, dass die Fenster zitterten.
Marianne wollte schon zu einer „Hej, das lass ich mir nicht gefallen“-Rede ansetzen, liess es aber, ihrer Intuition vertrauend – später, war manchmal früh genug – sein, und räumte still die Tischmisere weg.
Da läutete es an der Haustüre.
Anna flog förmlich aus ihrem Zimmer und stiess nur hastig ein: „Ich geh schon“ aus.
Marianne linste zum Fenster raus und erkannte den kleinen Mario, der ein paar Schritte von der Haustüre zurück gemacht hatte, als bräuchte er sichere Distanz zu dem, was da kommen möge. Sie mochte den Nachbarsjungen, der hin und wieder mit Anna spielte und auch vor deren Bäbiegge nicht kuschte, leidlich. Klein und dünn war er. Etwas zerstreut und zerstrubbelt. Eher zurückhaltend aber dennoch mit viel leisem Humor und einer Prise Scharfsinn ausgestattet. Marianne hoffte, dass Mario den Nachmittag hier bei Ihnen verbringen würde. Bei einem gemeinsamen Zvieri würde Lea vielleicht sogar…“
Ein sanftes Klopfen an der Glastüre am Anbau des Hauses holte sie aus ihren Gedanken zurück. Sie staunte nicht schlecht, als sie Ihren Mann Philipp mit einem riesigen Blumenstrauss und einem noch grösseren Grinsen im Gesicht erblickte, hatte dieser doch seine Rückkehr von einer längeren Geschäftsreise nach Hamburg erst für in zwei Tagen angemeldet. Schnell öffnete Sie die Türe und umarmte ihn innig.
„Warum…?“, wollte sie schon fragen, worauf beide gleichzeitig: „Meet Corona!“ ausriefen und zu lachen begannen.
„Und warum läutet mein Mann nicht wie ein Gentleman an der Vordertüre, damit sich die Hausdame noch die Haare richten kann?“, fragte Marianne, die als erste die Sprache wiederfand, schnippisch.
Philipp grinste: „Also erstens wollte ich zuerst einmal zu dir. Und da ist mir sogar der Weg durch die Hecke recht. Du kennst meinen alten faden Standardspruch: Kinder in Ehren. Verheiratet sind wir beide. Und zweitens: Ich hüte mich davor, meiner Tochter die zuckersüsse Szene vor der Haustüre mit einem Nachbarsjungen zu vermiesen, der bald wegzieht.“
„Was?“, fragte Marianne erstaunt.
„Ja, Riederers ziehen nach Sursee. Habe soeben auf dem Heimweg im Zug Vater Lukas getroffen. Jetzt ist es definitiv. Er kann dort kurzfristig einen Kaderjob bei SwissPostSolution übernehmen. Eine once in a lifetime opportunity. Die sollte er schon packen, wenn du mich fragst.“
„Seit wann weisst du das?“
„Ich glaube wir haben uns vor etwa drei Wochen kurz über den Zaun hinweg ausgetauscht, als ich von meiner Joggingrunde…“
„Und warum sagst du mir das erst jetzt?“
„Ähm. Ja hat denn die Brigitte nichts…?“
„Nein hat sie nicht, verdammt.“
„Warum denn gleich so…“
„Ach, vergiss es Phibe, schon gut. Nicht deine Baustelle – wie du amigs zu sagen pflegst.“ Sie küsste ihren verdutzten Mann auf den Mund. „Jetzt komm erst mal rein, Kerl. Kaffee? Und hast du Lust auf was Kindergartensüsses. Es hat noch mehr als genügend Flans im Kühlschrank.“
Phillip antwortete erleichtert und zufrieden: „Yes! Sicher, du kennst mich ja. Ich liebe dich. Und Flans!“

Am Abend setzte sich Marianne dann vor dem Schlafen gehen ans Bett von Lea und fasste sich ein Herz: „Mmmh, wie ging es denn heute Nachmittag so mit Mario?“
„Warum fragst du? Wir haben gespielt. Was sonst?“
„Nun, weil, weil,…“, Marianne seufzte.
„Aha, du meinst, weil er wegzieht?“
„Tja, genau. Dann weisst du das also auch schon.“
„Ja klar. Was meinst denn du? Indianer vertrauen einander Dinge an und plappern sie nicht grad aus.“
„Also stresst oder beschäftigt dich das?“
Lea druckste ein wenig herum und nuschelte dann ein: „Geht so. Doch, doch“ hervor.
„Indianerehrenwort, Lea. Du darfst mir alles sagen.“
„Und Lars und Papa sagst du auch garantiert nichts?“, wollte Lea wissen.
„Wenn du das wünschst. Ich weiss zwar nicht, warum Papa nichts wissen darf. Aber tant pis.“
„Ach, einfach diese Männer“, seufzte Lea.
„Wie meinst du das jetzt?“
„Nun, im Kindergarten ist es so: Mit den Jungs geht vieles ja gar nicht. Oder nicht wirklich. Die sind so doof. Ganz ohne sie machts aber auch nicht so Spass.“ Lea pausierte und schloss dann leise mit: “Vor allem ohne Mario nicht.“
„Ach Lea, mein Liebes, bist du denn ein wenig verknallt in ihn?“
„Verknallt, verknallt, verknallt“, ereiferte sich Lea, „Mamma mia, was heisst denn schon verknallt? Hat man dann einen Knall? Mich dünkts! Guck dir doch nur mal meine Freundinnen Corina und Antje an. Läuft Andrin vorbei, können die sich kaum halten vor lauter Kichern. Wenn das verknallt ist, bin ichs nicht und wills auch nicht sein. Basta.“
„Schon gut Lea, ich wollte deine Gefühle nicht verletzen“, beschwichtigte Marianne sie, „was ist es dann?“
„Also, findest du ihn nicht auch ein wenig süss?“
„Ja, das ist er. Ein bisschen ein Finöggeli.“
Lea musste grinsen. „Aber weisst du, was der Unterschied zum Beispiel zu einem David Holzer ist? Er dackelt mir nicht wie ein Schosshündchen hinterher und will auch nicht unbedingt gemeinsam mit mir im Playmobilegge spielen.“
„Fein“, sagte Marianne interessiert, „und sonst?“
„Nun, wenn wir zusammen sind, fägts einfach. Er hat immer Ideen beim Spielen, respektiert aber meine Sachen. Ich mag ihn. Mag ihn sogar sehr. Wie nennt man denn das, Mama?“
„Das ist doch wunderschön. Tja, braucht es dafür überhaupt einen Begriff?“, meinte Marianne möglichst neutral. „Vielleicht ein wenig ungewöhnlich in deinem Alter, ich meine, dass ein Mädchen mit einem Jungen gerne und so ausdauernd spielt. Wir leben aber im 21. Jahrhundert und da ist das gottseidank kein Problem mehr.“
„Was heisst da kein Problem, Mama? Er zieht fort. Hast du das schon vergessen?“
„Aber Liebes, aus den Augen heisst doch nicht gleich auch aus dem Sinn. Du weisst, dass Papa und ich gerne mit Riederers etwas unternehmen. Wir werden uns also sicher wiedersehen.“
„Aber Mama, wird es dann wieder gleich sein?“
„Wer weiss? Wenn ihr euch vertraut vermutlich schon.“
„Und wenn nicht.“
„Dann. Tja dann kommt etwas anderes oder jemand Neues, Liebes. Das Leben ist nicht kontrollierbar, es geschieht einfach. Die Sonne geht auf…“
„Jaja, und die Sonne geht unter. Ich weiss, Mama. Ich will aber, dass Mario geschieht. Ich hatte noch nie so einen guten Freund an meiner Seite. So einen herzigen nebenbei. Wie soll das nur gehen?“
„Frag ihn doch.“
„Ich will nicht mit ihm darüber reden. Indianer schweigen…..Und. Und dann tun sie einfach.“
„Was denn?“
„Ich kann ihm doch zum auf Wiedersehen sagen nicht einfach wie in der Schule kalt die Hand geben. Und Abklatschen ist was für Jungs.“
„Du denkst bereits über das Abschiedszeremoniell nach?“
„Ja klar! Wie sagt man denn für lange Zeit Tschüss. Und bleibt dennoch in Erinnerung?“
„Aha, so meinst du. Wie wäre es denn mit einer Umarmung?“
„Wir haben uns noch nie umarmt.“
„Einmal ist das erste Mal.“
„Ja, ist das dann so, wie wenn Papa mich umarmt. Ich möchte nicht, dass es sich anfühlt, wie wenn Papa mich umarmt. Und wenn er jetzt nicht weiss, wie man das macht. Dann ists doch auch… auch schwierig.“
„Schätzchen, ich weiss nicht, was dir vorschwebt?“
„Was machen denn du und Papa, wenn ihr euch Ade sagt?“
„Natürlich umarmen wir uns. Und küssen. Ja, küssen tun wir uns auch.“
„Siehst du!“
„Also, willst du ihn küssen?“
„Ich weiss doch nicht. Ich möchte einfach nichts verpassen. In den Filmen gibt’s zum Schluss doch auch immer einen Kuss. Einen auf die Stirn oder Backe würde ich auch nehmen.“
Marianne atmete einmal gut durch.
„Du kannst das schon riskieren. Bleibt die Frage, wer denn den ersten Schritt unternehmen soll?“
„Darüber muss ich nachdenken.“
„Tu das. Oder schlaf jetzt einmal drüber. Vielleicht weisst du es dann schon morgen früh.“
„Meinst du?“
„Ich will es hoffen, Kleine.“
Marianne gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange, erhob sich von der Bettkannte, löschte das Licht, steckte das Nachtlämpli ein, sagte: „Ig ha di über aues gärn, Lea“ und wollte gerade die Türe schliessen als diese antwortete: „Ig di o. Danke!“ sowie zwei oder drei Sekunden später: „Mamaaaa?“
„Ja, was denn Liebes?“
„Ich habe Hunger.“