Nein, vom Aussehen her gefielen ihr ihre Beine ja auch nicht. Kurz waren sie. Und krumm. Sehr krumm. So krumm, dass man nach einem Volkssprichwort „Säue hätte untendurch jagen können.“ Aber eben: diese Beine waren halt nun mal ihr Markenzeichen. Waren es schon als Mädchen gewesen. Man erkannte sie im Dorf ihres markanten Ganges wegen selbst bei Nebel wie jetzt im November von weitem. Und dafür liebte sie ihre Beine aufrichtig. Denn zu verstecken gab es bei Rosa nichts. Nicht mehr. Im Gegenteil. Sie fiel gerne auf. Und wer hätte gedacht, dass es einmal dazu kommen würde? Sie war als Kind ein „klassisches“ hässliches Entlein gewesen. Zwar nicht mit Spange im Gesicht wie in Göläs berühmten Lied, die hatte es vor mehr als 60 Jahren auch gar noch nicht gegeben, aber doch durch ein schwerfälliges Brillengestell gekennzeichnet, ausstaffiert mit strohigen Haaren, die machten, was das Wetter wollte sowie einer markanten leicht L-förmigen Nase. „Chroosle“ hatte man sie etwas abschätzig genannt. Die Chroosle, die vom windschiefen Klemm-Hof herkam. Die Eltern hatten, retrospektiv würde man sagen visionär, gebauert. Biologisch. Ganz nach ihrem Vorbild, Rudolf Steiner. Dazu gehörten Dinge, wie das Aussähen nach den Mondphasen oder das Feiern der Jahreszeitenwechsel anstatt der Geburtstage oder anstatt Weihnachten. Ja, Klemms galten im Dorf hinter vorgehaltener Hand als ein bisschen „gspässigi Lüt“, die hirnverbranntes Spinnerzeugs praktizierten. Unter diesem Getuschel wie auch unter dem Ausbleiben von Freundschaften zu gleichaltrigen Mädchen hatte Rosa unsäglich gelitten, weshalb ihr lange nur eine Fluchtmöglichkeit blieb, nämlich diejenige in ihre Fantasiewelt, in ihre Bücher. Lesend fand sie immer ein Daheim. Ein Daheim, in welchem es kein gesellschaftliches „richtig“ oder „falsch“ der „End-1950er-Jahre“ gab, sondern nur 1001-Möglichkeit, wie das Leben aussehen, verstanden oder sich vorgestellt werden konnte. Als aus „Chrosle“ die 23-jährige „Rosle“ geworden war, was sie selbst immer schrecklich an „Grosle“ erinnerte, veränderte sich eines Morgens auf einen Schlag ihr Bewusstsein. Sie erinnerte sich noch, dass sie hinter einer Haferflöckli-Schale gesessen hatte, als sie neckisch der erste Sonnenstrahl blendete und sie urplötzlich wusste, dass sie von ihrem eigenen Duckmausertum, ihrem Graue-Maus-Dasein dicke die Schnauze voll hatte. Sie beschloss mutig, ihren Namen zum Programm und sich selbst neu unverkennbar sichtbar zu dem zu machen, was sie ja ohnehin war: zur Aussenseiterin. Sie begann sich pink zu kleiden, ihre Fingernägel, ihre Haare rosa zu färben und dicke rosarote Brillen zu tragen und sie war auch eine der ersten im Kanton Bern, die ihre Füsse in neonfarbigen Nike AirMax spazieren führte. Auf dem Gipfel ihrer „Neugeburt“, wie sie ihre Verwandlung ohne sich zu schämen nannte, trug sie selbst gedruckte T-Shirts mit der Aufschrift: „Ich bin Rosa und wer bist du?“ Es ging nicht lange, da wurde aus „Rosle“ plötzlich ein gerngesehenes Dorforiginal. Ein Dorforiginal, dem die Kinder in ihrem pinkigen Mini Cooper freudig zuriefen und zuwinkten, weil Rosa für sie immer ein Sugus im Hosensack hatte oder weil sie deren Gruselgeschichten vergötterten, welche sie nach ihrer Pensionierung als Kindergärtnerin oft in der Dorfschule präsentieren ging. Ein Dorforiginal, das gut damit leben konnte, dass der Nachbar Hans, der bekannt für seine deftigen Witze war, ihr liebevoll „meine kleine Litbarski“ sagte. Ein Dorforiginal, ohne das man sich das ländliche Dorf irgendwie gar nicht mehr vorstellen konnte. Ein Dorforiginal, das man, wenn nicht durch ihre farbigen Kleider so doch aufgrund ihres unverkennbaren Ganges schon von weitem erkannte. Wegen ihrer nicht sonderbar hübschen, krummen Beine.