Die andere Christina

  • Post published:27. April 2020

„Oh nein, Christina, diese hole Nuss“, ging es Lena durch den Kopf, während sie sich hinter einem Kleiderständer im H&M ruckartig duckte. Auf eine Begegnung mit der hatte sie nun wirklich keine Lust. „Chrigle“, wie sie von allen gerufen wurde, war im gleichen Quartier wie Lena in Mölin aufgewachsen und sie teilten einige gemeinsame Kindheitserinnerungen, die Lena lieber verdrängte. Nicht nur hatte Chrigle ihr Lieblingsbäbi beim Familie Spielen in einem Tobsuchtsanfall an einer Betonmauer kaputtgeschlagen, sondern sie war auch das Liebkind bei Lenas Lieblingslehrerin, der Frau Trummler, gewesen. Wie könnte sie das je vergessen. Die Hauptrolle im nepalesischen Märchen, den Sonderpreis für die beste Bastelarbeit, den Platz vor dem Lehrerpult, das alles hatte immer Chrigle gekriegt. Als krönenden Abschluss quasi hatte Chrigle ihr dann mit 13 Jahren auch noch ihren ersten Schatz, den Nicolas, ausgespannt. Okay, das war zwar alles schon fast ein ganzes Leben her aber weh tat es eben noch immer. Natürlich fand Lena ihr Wegducken etwas kindisch aber auf eine Begegnung, nein, auf eine solche hatte sie jetzt einfach keinen Bock. 

„Hallo Lena, bist du das?“
„Äh ja, hallo Chrigle, genau, Lena, so heisse ich, richtig.“
„Hast du etwas verloren?“
„Ja richtig, mein Ohrenstecker ist mir rausgerutscht.“
„Soll ich dir beim Suchen helfen?“
„Nein, nein alles tipptopp, habe es schon wiedergefunden.“
„Aha, wie geht es dir denn so?“
(Unverbindlich, abwimmelnd) „Gut, eigentlich ganz gut, danke.“
„Echt?“
„Ja ja“ (Längere Pause als nötig, nölig) „Und du?“
„Hättest du Zeit für einen Kaffee?“
„Ähm, also…“
„Ach Lena, du bist mir immer noch böse, oder?“
„Was meinst du?“
„Wegen all dem Kladeradatsch in unserer Kindheit. Lief ja wirklich Scheisse.“
„Wie bitte?“
„Na, ich meine das mit Nicolas zum Beispiel. Den habe ich dir doch einfach weggeschnappt. Und bei Frau Trummler in der 3./4. Klasse sass ich dir doch eigentlich auch vor dem Glück. Phu, und dann wäre da noch das geschreddete Bäbi während unserer Sandkastenzeiten. Ich habe nicht gerade viel unternommen, dass ich jetzt bei dir einen Best-Friends-Status geniessen würde.“
(Seufzt) „Nein, allerdings nicht, da hast du recht.“
„Tut mir leid Lena, echt. Wirklich mies. Ich kanns aber nicht rückgängig machen.“
„Nein, schon klar.“
„Hilft es dir, wenn ich dir sage, dass ich dich heimlich immer etwas benieden habe.“
„Wieso das denn?“
„Na ja, du bist immer so originell gewesen, hast immer die besten Texte geschrieben, ausgeflippte Kleidung getragen und mit Jungs konntest du es auch immer gut, ohne dass sie gerade sabbernd Schlange standen.“
„Ist das jetzt ein Kompliment?“
„Ich finde durchaus. Ich selbst zum Beispiel habe einfach immer blöd gelächelt. Du hingegen hattest Courage, konntest diese pubertierenden Clowns auch mal in den Senkel stellen, ohne dein Gesicht zu verlieren.“
„Stimmt, das hat was.“
„Dann wars du aktiv, hast als kleine Göre Fussballgrümpis im Quartier organisiert, hattest später eine Meinung zur F/A 18 und hast im Abschlusstheater in der 9. Klasse mit Genuss eine hässliche Hexe und uns alle damit an die Wand gespielt. Das war vielleicht mutig. Also ich fand es zumindest cool. Aber frag mich jetzt nicht, wieso ich dir das damals nicht sagen konnte. Blond und dumm halt.“ (Lächelt)
„Jetzt übertreibst aber du.“
„Also, magst du jetzt vielleicht Kaffee trinken?“
„Okaaay, könnte passen.“
„Schön, das freut mich.“
„Mich auch. Unter einer Bedingung.“
„Welche denn?“
„Keine Rückblenden.“
„Nein, schon klar. Wir quatschen als Erwachsene übers Leben. Blond und dumm, das war einmal.“
„Scheint so.“
„Ist so. Wette?“
„Von mir aus.“