Gedankenverloren stehe ich am Bahnhof Grosshöchstetten und nippe an einem Kioskespresso, als plötzlich eine einzelne Lokomotive an mir vorbeidonnert. Dreckverkrustet, ölverschmiert, Graffiti verziert. Richtig verbraucht sieht sie aus. Einzig die Frontscheibe unter den Wischern ist blitzblank. Dahinter blickt ein grimmiges Gesicht mit silbergestelliger Pilotenbrille sowie einem knorrigen Stumpen im Mundecken in die Ferne. Sicher ein verwirrt-verirrter Zugrangierer, ist mein erster Gedanke. Vielleicht ein Mann auf gefährlicher Mission, mein zweiter. Ich werde unruhig. Kurz überlege ich, ob es nicht meine Pflicht wäre, die SBB-Hotline anzurufen, schliesslich müssten in so einem Fall Bahnübergänge gesperrt, die Polizei informiert und eilig Pressenachrichten geschrieben werden. Oder nicht?
Da kommt mein Zug und mit der üblichen Krimi-Bahnlektüre auch Beruhigung für mein überhitzt drehendes Hirnkarussell. Als ich in Bern aussteige, bin ich im französischen Perrigord mit Kommissar Bruno durch nach Trüffel riechende Wälder geritten, habe schweren Malbec-Rotwein getrunken, ein Rugby-Turnier für schwererziehbare Jugendliche organisiert, eine heisse Europol-Flamme geliebt, mit Links ein paar IRA-Terroristen zur Strecke gebracht und sowieso an einem Tag so viel erlebt, erlitten und erledigt, als auf dem gegenüberliegenden Geleise ganz langsam eine einsame, schwer ramponiert dreinschauende Lokomotive dahergeschlichen kommt. Und ist es nur Einbildung oder entspricht es der Wahrheit, dass der Lokführer – silbergestellige Brille, knorrige Zigarre – mir zuzwinkert und zum Gruss sanft zwei Finger an die Schläfe tippt?