Rheinpromenade. Spätwintertag. Die Sonne scheint. Eine Ahnung von Frühling und die Vorfreude darauf macht sich allenthalben breit. Ein schlanker Mann, etwas über 60 Jahre, mit einem Borsalino, den seine dunkelgrauen Haare bedeckt, schlendert mit einem breiten Lächeln auf ein Bänkchen zu. Dort sitzt eine etwa gleichaltrige Frau in einem knallroten Mantel. Sie liest. Die Haare stilvoll leicht aufgetürmt. Mit junggebliebenen Augen schaut sie auf, als sie merkt, dass der Mann auf sie zusteuert. Sie legt das Buch weg und schaut ihn interessiert an. Er fragt: „Darf ich mich neben Sie setzen?“ Sie antwortet mit etwas spitzer Zunge und Wiener Akzent: „Na, Sie dürfen sogar mit mir plaudern!“ Er kennt und liebt das an ihr. Schon lange. Als er sich neben sie setzt, schieben sich ihre beiden Hände ineinander. So wie immer. Sie lehnt ihren Kopf an seine Schulter und er sagt: „Schön hier heute.“ Sie antwortet: „Ja, schön hier. Gestern auch schon. Und morgen? Auch?“ Sie müssen beide lachen. Weil, wer weiss das schon? Er denkt an die Zeit zurück, als alles auf Messers Schneide gestanden hatte. Das leichte Hinken mit dem linken Fuss zeugt von dieser Zeit. Aber was will er sich denn beklagen? Er fährt wieder Rad, kann essen was ihm schmeckt, mit dem PC schreiben und mit seinen Kindern im Teenageralter, die an einem anderen Ort leben, auch mal eine Nacht draussen campieren. Das hat er sich immer gewünscht. Er ist dankbar. Für das Heute, das Jetzt, das Hier sein. Ein Schwan gleitet an ihnen vorbei und faucht. Der Mann küsst die Frau auf die Stirn und sagt augenzwinkernd: „Gnä Frau, schauen Sie, sogar die Natur sagt, dass es jetzt Zeit ist, um nach Hause zu gehen. Möchten Sie mit mir mitkommen? Ich koche ganz gut.“ „Ah ja“, sagt die Frau und kraust die Stirn, „das will ich aber hoffen. Mich werden Sie nämlich so schnell nicht los.“ Als sie aufstehen, führen beide instinktiv den Daumen zum Ringfinger der jeweilig eigenen linken Hand und berühren dabei einen schmalen, leicht gewellten Silberring. Passt.
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- Post published:26. Dezember 2021